Die Gestalttherapie gehört zur Gruppe der humanistischen Psychotherapien, und ist doch mehr als das. Sie ist eine innere Haltung dem Leben gegenüber: Vertrauen auf Selbstregulierung und Selbstorganisation; Veränderung durch vollständige Akzeptanz – also mehr als rein intellektuelles Verstehen – dessen, was ist.
Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten Laura und Fritz Perls, Paul Goodman u.a. die Grundlagen der heutigen Gestalttherapie. Es war eine radikale Veränderung gegenüber der bis dato anerkannten klassischen Psychoanalyse. Die Aufmerksamkeit wurde auf das momentane Erleben gerichtet, die therapeutische Deutungshoheit durch nicht-direktives Arbeiten ersetzt, die Wahrnehmungsfähigkeit geschult und die therapeutische Beziehung in den Mittelpunkt gestellt.
Eine Gestalt – was ist das?
Der Name Gestalt kommt aus der Gestaltpsychologie und bezeichnet ein sich von einem Hintergrund unterscheidendes sinnvolles Ganzes, eine Figur oder eben eine Gestalt. Beispiele sind eine Melodie, die sich von der Begleitung abhebt, oder der Hunger, der trotz allen anderen aktuellen Empfindungen ganz deutlich und drängend im Vordergrund steht. Gleiches gilt für Gefühle, vergangene Erlebnisse, Zukunftsängste usw.
Eine Gestalt im Sinne der Gestalttherapie ist: das Erleben (Gefühle, vergangene Erlebnisse usw.), das in diesem Moment vordergründig, hervorgehoben, präsent ist. In der aktuellen Gestalt spiegelt sich das momentan wichtigste Bedürfnis im Kontext des Augenblicks wider. Nach seiner Befriedigung erscheint das nächst wichtigste als die neue kontextuelle Gestalt. Der Gestaltbildungsprozess hat so seine natürliche Abfolge.
Dabei ist der Gestaltbegriff nicht nur als rein intellektuelles Konzept oder eine einfache Wahrnehmung zu verstehen. Eine Gestalt entsteht durch Wahrnehmung und Sinngebung der Empfindungen der fünf Sinne im Zusammenhang mit allem, was zur Entstehung dieses Moments beiträgt.
Arbeiten im Hier und Jetzt – und was ist mit meiner Vergangenheit?
Die Gestalttherapie arbeitet mit der aktuellen Gestalt, sie bekommt Aufmerksamkeit. Als Ausgangspunkt der Arbeit dient das jetzt Offensichtliche; das, womit Du gerade beschäftigt bist – was auch immer das ist. Es ist genau dieser Moment, der im Fokus steht, und in welchem sich die therapeutische Beziehung entfaltet.
Vergangenheit und Zukunft haben natürlich Einfluss auf die Gegenwart, doch wo findet das Leben statt? Schmerzhafte oder schöne Erinnerungen, die Vorfreude, das Planen oder die Angst vor der Zukunft werden in diesem Augenblick erlebt. Die aktuelle Gestalt, das momentane Erleben kann also inhaltlich aus der Zukunft oder der Vergangenheit sein, ist aber immer in der Gegenwart verwurzelt.
Die therapeutische Begleitung dient als Stütze, um den schwierigen Gefühlen und Zuständen nicht auszuweichen, sondern ihnen zu begegnen. Denn nur im Hier und Jetzt gibt es die Möglichkeit, aktiv zu werden und dadurch dem eigenen Leben eine selbst gewählte Richtung zu geben.
Der Fokus des Prozesses – eher wie als was
Im therapeutischen Prozess gibt es zwei besondere Ebenen, den Inhalt und die Art und Weise des Geschehens. Was war in der Vergangenheit los, was passiert in diesem Moment, was wird in Zukunft geschehen und mehr sind Inhalte des Erlebens oder der Lebensgeschichte. Dagegen gibt es die Art und Weise, wie ein Mensch spricht, gestikuliert, wie er sich mimisch äußert etc.
Die Art und Weise – das Wie – führt in die Gegenwart. Genauer in den Körper, seinen Ausdruck und die entsprechenden Empfindungen. Während der Inhalt – das Was – eher in Vergangenheit oder Zukunft weist.
Beide Ebenen haben ihren Platz innerhalb der Therapie. Über die Gegenwartsbezogenheit des Wies können sich neue Erkenntnisse und Wege für das Was ergeben. Deshalb bezieht sich die Gestalttherapie stärker auf das Wie als das Was.
Die therapeutische Beziehung – Du und Ich
Beziehung und Kontakt finden an der Grenze statt, das ist eine andere Formulierung für das, was Martin Buber sagte. In Beziehungen geht es immer wieder darum, diese Grenze wahrzunehmen, zu spüren und zu verhandeln. Genauer gesagt, das Miteinander zu verfeinern. Dabei können nährender Kontakt und authentische Begegnung entstehen, die nichts mehr mit bekannten Floskeln gemeinsam haben.
Die therapeutische Beziehung ist in dem Sinne besonders, dass sie in einem geschützten Rahmen stattfindet. Es ist eine Beziehung, die auf Augenhöhe, Respekt und Vertrauen beruht. Dafür braucht es Hingabe, Aufwand und Ehrlichkeit. In dieser Beziehung können Wagnisse eingegangen und neue Verhaltensweisen ausprobiert werden: Zum Beispiel über Dinge zu sprechen, die sonst unbesprechbar sind.
Veränderung – ein Paradoxon
Für Veränderung braucht es meiner Meinung nach Intention und Akzeptanz. Einerseits Deine Intention überhaupt etwas verändern zu wollen. Ohne diese Intention ist es selten möglich, tiefe Introspektion zu erleben. Andererseits geschieht eine Veränderung nur, wenn das, was ist, akzeptiert wird.
Oberflächlich können Verhaltensweisen umstrukturiert und Symptome verschoben werden – das meine ich nicht mit Veränderung. Ich meine eine grundlegend neue Sichtweise oder Ausrichtung, die aus dem Erleben der eigenen Lebendigkeit anstatt aus Konzepten oder Ansprüchen von außen entspringt. Durch die Akzeptanz dessen, was ist, und die damit verbundene Ausweglosigkeit, kann etwas Neues, eine wirkliche Veränderung entstehen. Dieses Phänomen wird als Engpass bezeichnet.